Lüdersens Frühzeit

uedersen Ortsansicht Skizze

Zur Zeit des Bischofs Milo von Minden (969-999) wird für einen Ort namens „Luidgereshem“ die Übertragung des Zehnten urkundlich erwähnt. Aufgrund der Nennung zwischen einer Wüstung (aufgegebene Siedlung) bei Bennigsen und des Ortes Bennigsen selbst sowie der regionalen Verortung Marstem- und Tilithigau, beides historische Bezeichnungen der Umgebung, ist die Aussage, dass es sich hierbei um das heutige Lüdersen handelt, sehr sicher. Jene Ortsnamensendung „-heim“ aus der Zeit des Bischofs Milo deutet sprachgeschichtlich auf eine Existenz des Ortes bereits im 5. bis 7. Jahrhundert hin, als die Sachsen weite Teile Niedersachsens und Westfalens besiedelt hatten.

 

Hierfür spricht ein weiteres Argument, nämlich die Lage der St. Marien Kirche. Denn das Gebiet der Sachsen wurde erst in den letzten drei Jahrzehnten des 8. Jahrhunderts von Karl dem Großen christianisiert und in sein Frankenreich einbezogen. Blickt man heute auf Lüder-sen, liegt die Kirche mitten im Dorf. Es gibt jedoch eine einfache, recht sichere Methode, die Lage der ältesten Höfe eines Dorfes zu ermitteln: die anlässlich der Agrarreformen des 19. Jahrhunderts gezeichneten Karten der Orte und zugehörigen Fluren (Verkoppelungskarten). In ihnen ist die Lage der einzelnen Höfe genau kartiert. Luedersen Ortsgrundriss-um1Die größten Höfe der Dörfer heißen in unserem Gebiet seit dem ausgehenden Mittelalter häufig „Meierhöfe“ (hier: Vollmeier und Höfelinge). Sie sind weitaus überwiegend auch die ältesten Höfe und liegen in Lüdersen alle-samt in einem Bogen unterhalb, also südlich der Kirche. Die Stellen der Kötner dagegen, zumeist seit der Phase des Wirtschafts- und Bevölkerungswachtstums des 12. Jahrhunderts und später hinzugesiedelt, umschließen im Nordbogen die Kirche. Da es aber erst seit der Christi-anisierung eine Kirche geben kann, lag diese nördlich außerhalb des ersten Lüderser Dorfkerns. Das Dorf ist also älter als die früheste mögliche Kirche.

Lüdersen gehört zum so genannten Altsiedelland wie die meisten Dörfer im Calenberger Land zwischen Deister und Leine. Zahlreiche jungsteinzeitliche Funde aus der Zeit ab ca. 5000 v. Chr. zeigen, dass der Raum südwestlich von Hannover besiedelt war. Hieraus kann aber keine Siedlungskontinuität, also unterbrechungslose Besiedlung, und erst recht keine Ortskontinuität, also Besiedlung stets desselben Platzes, geschlossen werden. Ob Lüdersen also noch frü-her als im 5. bis 7. Jahrhundert angelegt wurde, muss offen bleiben.


 

Der Kirchturm, ein Schutzturm

1252 wird ein Pfarrer in „Luderhusen“ erwähnt, ebenfalls mit größter Wahrscheinlichkeit dem heutigen Lüdersen zuzuordnen. Dies ist nicht nur der erste sichere Beleg für die Kirche, son-dern auch ein Hinweis auf die Namensendung „-hausen“, wie im „-sen“ des heutigen Ortsna-mens weiterhin enthalten. In der Fachliteratur über Baudenkmale in Niedersachsen werden Teile der Lüderser Kirchturms im Übrigen frühestens auf das 12. Jh. geschätzt. Fast alle Dorfkirchen im Calenberger Land stammen erst aus jener und auch noch späterer Zeit.

Der Turm der Kirche wird als „Wehrturm“ bezeichnet. Seine starken Außenmauern deuten auf eine über die Trägerkonstruktion des Glockenwerkes und über die religiös-repräsentative Funktion hinausgehende Nutzung. Zudem hatte der Turm bis zur neugotischen Gestaltung, immerhin durch Conrad Wilhelm Hase 1871/72, offenbar keinen ebenerdigen Zugang. Die Gläubigen betraten die Kirche von Süden durch eine Tür im mittleren Schiff. Nun kennt man in Europa vielerorts befestigte Kirchen oder burgturmartige Kirchtürme, und etliche Kirchen des Calenberger Landes weisen eben jene trutzigen Turmsockel auf.

Könnte in Lüdersen ein Zusammenhang mit dem Aufgeben der Fliehburgen auf dem Deister, hier speziell der Bennigser Burg bestehen? Jene Wallanlage des 9.-10. Jahrhunderts mit der Hauptburg von 140 x 160 m und einer Vorburg von 100 x 185 m dürfte in Kriegszeiten vielen Menschen aus dem mit zahlreichen Kleindörfern dichter als heute mit Siedlungen besetzten Gebiet zwischen Völksen, Gestorf und Lüdersen Schutz geboten haben. Im 12. Jahrhundert stiegen die Einwohnerzahlen im Rahmen des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums, und die städtischen Siedlungen gediehen. Im Gefolge Heinrichs des Löwen etablierte sich der lo-kale Adel ebenso wie eine Ministerialität unfreier Personen, die höhere Herrschaftsdienste wahrnahmen. Gerade nach der Entmachtung Heinrichs des Löwen verschmolzen diese Grup-pen zum niederen Adel, der seinerseits die teils bis heute bestehenden Rittergüter ausbaute (vgl. Gestorf, Bennigsen). Die entstehenden Städte wurden mit Wall und Graben, mit Palisa-den oder Mauern befestigt. Die Adelssitze hatten als Kerngebäude oft einen festen Turm. Und die Dörfer? Sollten wir im Falle der starken Kirchtürme besser von Schutztürmen sprechen, in denen Vorräte in schlimmen Zeiten gelagert wurden, ja, in die sich die Menschen zurückziehen konnten, die zu jener Zeit noch in Gruben- und Pfostenhäusern wohnten?

Generell scheint die Ortssituation Lüdersens auf eine so genannte Schutzlage zu deuten. Das Dorf liegt in mehr als 100m Höhe auf einem Sporn, den der Wolfsberg nach Süden in das Calenberg Land hinein schiebt. Im Bogen von Westen nach Süden ist der Ort von der feuchten Niederung der am nördlichen Süllberg entspringenden, nach Pattensen fließenden, Schille umgeben; im Westen schließt sich das ebenfalls feuchte Stamsdorfer Holz an. Diese Schutz-lage an der Grenze zwischen trockenen und feuchten Arealen, zwischen Waldflächen in der Höhe, feuchten Wiesen und Wäldern in der Niederung sowie fruchtbaren Äckern in der Löss-börde am Hangfuß bot vorzügliche Möglichkeiten für Bau- und Brennholzgewinnung, Stein-brüche und Tonkuhlen, Wiesen und (Wald-)Weiden sowie für ertragreichen Ackerbau.


 

Mittelalterliche Grundherrschaft

In den Jahren nach 1302 gelangten etliche der Lüderser Höfe, die Lüderser Kirche und der Zehnt über die Ländereien in den Besitz des Klosters Loccum. Diese Zisterzienserabtei, eine Filialgründung des Klosters Volkenroda in Thüringen, wurde 1163 von den Grafen von Hal-lermunt gestiftet, die den Kern ihrer Herrschaft um Springe schrittweise ausdehnten. Das Kloster verfügte in seinem engeren Bereich über dichten Besitz, den es von Haupthöfen (Grangien) mit eigenem Personal (Konversen) bewirtschaften ließ. Vom Ackerbau über die entwickelte Fischteichwirtschaft bis hin zu zahlreichen Gewerben wirtschaftete das Kloster autark. Als im Laufe des 14. Jahrhunderts eine Agrardepression begann, die zur Aufgabe zahlreicher Siedlungen führt (Wüstungsphase), zerfiel diese gleichsam moderne Organisation. Die Zisterzienserklöster ließen ihren Besitz, ebenso wie bei anderen Grundherren seit langem üblich, von hörigen Bauern auf eigenständigen Höfen bewirtschaften. Auch Loccum löste die Grangien auf und erwarb nunmehr selbst in vom Kloster entlegenen Gebieten einzelne Bau-ernhöfe und den Zehnten über ganze Feldmarken. Der Zehnt, ursprünglich zur Ausstattung der regionalen Kirchen eingezogen, meinte jede zehnte geerntete Garbe. Gerade in der Nähe von Städten war der Zehnt mittlerweile ein renditeträchtiges Handelsgut geworden. So unter-hielt das Kloster in Hannover einen Stadthof (Osterstraße, nähe Aegidienkirche, heute Park-haus), um Überschussprodukte zu vermarkten. Ergänzend lieferte die Grundherrschaft des Klosters über einzelne Höfe sichere zusätzliche Getreideeinnahmen und verschiedene Leis-tungen an (Klein-)Vieh, Eiern, anderen landwirtschaftlichen Rohprodukten und auch an Geld.

uedersen Ortsgrundriss-neuIn den weiteren Schriftquellen des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts werden als Grundherren der Lüderser Bauern die Ritterfamilien Knigge, Rössing, Goltern sowie der Bischof von Minden, später auch die von Bennigsen und das Stift Fischbeck genannt. Alle Indi-zien deuten darauf hin, dass Lüdersen ein Bauerndorf war. Gewerbe, wie in Holtensen oder in Völksen, unfangreiche Dienstleistungen wie im Klosterort Wennigsen scheint es über das Notwendigste hinaus nicht gegeben zu haben.

Es mag sein, dass Lüdersen im Rahmen der Wüstungsphase nicht schrumpfte. Zwar fiel die Bevölkerungszahl in Europa von Beginn des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts generell, doch konzentrierten sich die überlebenden Menschen auf die bedeutenderen Orte. Um Lüder-sen wurden im Bogen von Norden nach Osten drei Kleindörfer aufgegeben: Wenningrode, Stamsdorf und Disber. Im Fall von Wenningrode lässt sich die Umsiedlung von zwei verblei-benden Höfen nach Holtensen nachvollziehen.

Seit dem 13. Jahrhundert bildete über der Grundherrschaft, die ein Bischof ebenso wie ein Kloster oder ein regionaler Adliger ausübte, die Landesherrschaft von Territorialfürsten aus. Schon Heinrich der Löwe hatte als Herzog von Bayern und Sachsen in der Mitte des 12. Jahr-hunderts eine überregionale Oberhoheit ausgebaut. In Nordwestdeutschland reichte sie von der Ostsee bis Westfalen. Seit Heinrichs Entmachtung 1180 im Konflikt mit Kaiser Fried-rich I. (Barbarossa) zerfiel sein welfischer Herrschaftsbereich. Zwar verständigten sich Staufer und Welfen bereits 1235, doch wurde die welfische Hoheit auf das neue Herzogtum Braunschweig und Lüneburg im Osten Niedersachsens beschränkt. Im Raum Hannover muss-ten sich die Welfen daher erst neu etablieren. In der Stadt Hannover drängten sie 1241 den Einfluss der Grafen von Roden zurück. Südlich, am Rande des Herrschaftsbereiches des Hil-desheimer Bischofs gründeten sie an der Leine alsbald die Burg Calenberg (bei Schulenburg) und drängten von hier aus bis 1411 auch die bis nach Pattensen sich ausdehnenden Grafen von Hallermunt zurück.


 

Leben im frühneuzeitlichen Dorf

Rekonstruktionen, wie das Leben im Dorf gewesen sein könnte, lassen sich erst seit dem 16. Jahrhundert anstellen. Im Buch über die Ortsgeschichte Lüdersens und auch in älteren Beiträ-gen von mir, sind insbesondere die so genannten registerförmigen Quellen der frühen Neuzeit ausgewertet. Zu den Althöfen (Meierhöfe) und den spätmittelalterlichen Kötnerstellen traten im Bevölkerungswachstum vom Ende des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts die Bei-bauerstellen hinzu. Diese Beibauern besaßen nur sehr wenig Ackerland und auch meist in Randlage. Sie waren aber an der Gemeinheit beteiligt, also an den Nutzungen der Wald- und Wiesenflächen durch alle Hofstellen. Das Kopfsteuerverzeichnis von 1689 verzeichnet 6 Vollmeierstellen mit ca. 30-40 ha Land, 4 Höfelingsstellen (Halbmeier) mit 12-30 ha, 11 Köt-nerstellen mit 2-10 ha, 18 Beibauernstellen mit 1,5-5 ha.

Diese registerförmigen Quellen, die überlieferten Eheverträge oder Meierbriefe bestätigen die aus anderen Dörfern bekannten Tatsachen. Alle Höfe wurden zu Meierrecht an die Bauern in Lebenszeiterbpacht vergeben. Neben den bereits genannten Abgaben waren Spanndienste (Meier) oder Handdienste (Kötner, Beibauern) für den Landesherrn zu leisten. Nur ein Kind erbte, zumeist der älteste Sohn (Anerbenrecht). Geheiratet wurde oft erst in der Mitte oder am Ende des dritten Lebensjahrzehnts, wenn die Elterngeneration bereits arbeitsunfähig war. Nachgeborene Kinder wurden mit einem Brautschatz ausgestattet, um möglichst in die selbe sozialen Schicht (Bauernklasse) einzuheiraten. Basis der Hofwirtschaft waren die Eheleute als Arbeitspaar. Starb einer der Eheleute, wurde rasch erneut geheiratet, und Kinder wurden so jung wie möglich in die Arbeit einbezogen. Große Hofstellen und die wenigen Handwerker benötigten viele Arbeitskräfte. Wenn nur wenige arbeitsfähige Kinder vorhanden waren, mussten Mägde und Knechte beschäftigt werden, die ihrerseits zumeist aus unteren Bauern-klassen stammten. Man lebte auch in Lüdersen im rückseitig abgeteilten Wohnbereich des - für Niedersachsen charakteristischen - Hallenhauses, also mit dem Vieh unter einem Dach. Ausschließlich größere Höfe besaßen eigene Gebäude für die Altenteiler (Leibzüchterhäuser), aber nur wenige Menschen wurden sehr alt. Drei Generationen auf einem Hof gab es daher selten.


 

Neue Arbeitsteilung im 19. Jahrhundert

Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts änderte sich die Zahl von stets mehr als 35 Hofstellen kaum, schnellte bis 1900 aber auf mehr als 60 hoch. Erst mit den Agrarreformen (Bauernbe-freiung) begann, wie in vielen Dörfern, die große Veränderung: Abstellung der Dienste, Ablö-sung der Abgaben, Aufteilung der gemeinschaftlich genutzten Wälder und Weiden (Gemein-heitsteilung) und Zusammenlegung der schmalen bäuerlichen Besitzparzellen zu größeren Ackerstücken (Verkoppelung). Dieser Vorgang währte in Lüdersen von 1839 bis 1859. Im Mittelpunkt stand der Verkoppelungsrezess von 1852.

Vor den Agrarreformen waren Verständigungen unter den Hofbesitzern um die Nutzung der Gemeinheit und die Feldbestellung nötig. Wie viel Holz durfte geschlagen werden? Wie viel Vieh durfte in den Wald getrieben werden? Und da eine Vier- und sodann Fünffelderwirt-schaft betrieben wurde: wann sollte gesät, wann geerntet werden? Welche Flurstücke sollten Brache sein? Dieser Zwang zur Kooperation entfiel nunmehr, denn jetzt waren die Bauern Eigentümer ihrer zu größeren Einheiten zusammengeschlossenen Felder und Wiesen. Kom-munale Angelegenheiten mussten in eine neue Rechtsform gebracht werden. 1853 entstand die politische Gemeinde. Das Dorf zählte nunmehr ca. 400 Einwohner, doch die Oberhand behielten die Bauern mit dem meisten Land und den zahlreichsten Arbeitsplätzen, denn die Hälfte des Gemeindeausschusses wurde von den Vollmeiern gestellt.

1872 wurde die Eisenbahn Hannover - Hameln - Altenbeken mit dem Bahnhof in Bennigsen fertig gestellt, 1874 eröffnete die Zuckerfabrik in Bennigsen. Zu diesem Zeitpunkt zeigt die Klassensteuerrolle von 1879 für Lüdersen deutliche Abweichungen gegenüber dem frühneu-zeitlichen Leben im Ort. Weiterhin dominierten vom Vermögen her die Meierhöfe. Die Mehrzahl der Kleinbauern war arm. Zwischen beide Gruppen hatte sich aber eine neue ge-schoben: Gewerbetreibende und Dienstleister. Alle wichtigen Handwerke waren nun im Dorf vertreten und dazu einige Bahnbedienstete und auch 44 Tagelöhner. Eine neue Arbeitsteilung hatte stattgefunden. Linden und Hannover waren als Industrieorte rasch gewachsen. Die Landwirtschaft richtete sich auf die neuen industriellen Zentren aus. In der Calenberg Börde konnte ertragreich Weizen angebaut werden. Eine grundsätzliche Veränderung im Frucht-wechsel brachte die mittlerweile zu hohem Zuckergehalt gezüchtete Zuckerrübe. Außerdem ermöglichte das Rübenblatt ein Füttern des Rindviehs auch im Winter, so dass in großem Um-fang Milchviehhaltung erfolgen konnte. Die Mechanisierung der Landwirtschaft hatte aber noch nicht begonnen. Daher mussten die Vollbauern viele einst auf dem Hof mitbetriebene handwerkliche Arbeiten delegieren und sich über das eigene Gesinde hinaus von Tagelöhnern unterstützen lassen. Die soziale Ungleichheit im Dorf prägte sich durch die neue Trennung zwischen agrarischer und gewerblich-dienstleistender Tätigkeit immer weiter aus.

Dies macht der Baubestand besonders deutlich. Es entstanden die neuen roten Backsteinge-äude der Kleinststellen mit ihren quer stehenden Giebeln über dem Hauseingang und den neben liegenden kleinen Stallungen (Zwerchgiebelhäuser, z. b. in der Bergdorfstraße). Auf den alten Höfen hatte das Fachwerkhaus ausgedient, denn der Stauraum unter dem Dach reichte nicht mehr für die großen Erntemengen aus und die Stallungen links und rechts der Tenne wurden zu eng. Man baute jetzt repräsentative und ummauerte Dreiseithofanlagen („Rübenburgen“) mit Wohnhaus, quer liegenden Stallungen und Seitfahrtscheune, geschmückt mit Ziegelornamenten (z.B. Hiddestorfer Straße). Ein Hof wurde sogar ausgelagert.

Neue Kooperationsformen traten an die Stelle des alten Zwanges zur Zusammenarbeit: die politische Gemeinde und, beginnend mit dem Gesangverein von 1893, die Vereine. Trotz allem bewahrte Lüdersen seinen bäuerlich-agrarischen Charakter. Die Landwirtschaft stand im Mittelpunkt. Gewerbe und Dienstleistungen waren der agrarischen Funktion untergeordnet.


 

Wissen und Unwissen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts

Die Geschichte der einzelnen Gebäude Lüdersens ist - mit Ausnahme der Neubaugebiete aus dem Ausgang des 20. Jahrhunderts - im Buch zur Ortsgeschichte sehr gut dokumentiert, auch etliche Details aus dem dörflichen Alltagsleben sind bekannt. Eine große Lücke besteht aber zur politischen Geschichte, speziell die NS-Zeit ist bisher nicht erforscht. Gerade da der länd-liche Raum Niedersachsens zum Kerngebiet der NS-Herrschaft gehörte, bietet es sich an, diese Lücke zu schließen. Ldersen 1938
Außerdem wäre es interessant zu erfahren, wie sich ein Bauerndorf in der Ernährungskrise des Ersten Weltkrieges verhielt oder wie die agrarischen Probleme zur Zeit der Weimarer Republik gelöst wurden. Sodann könnte das erzwungene Zusammenleben von Evakuierten, Heimatvertriebenen und Flüchtlingen genauer untersucht werden. Lüdersens Einwohnerzahl war um 1950 sprunghaft auf 1000 Personen angewachsen. Wann gingen die Städter zurück nach Hannover? Welche der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge blieben? Welche Rolle spielte das Anwesen Linderter Weg 4 (Kaysers Garten) als Wohnsitz wohlha-bender Städter, als Niederlassung alliierter Verwaltung, als Arbeiter-Erholungsheim und nun als Stätte des Diakonischen Werks Himmelsthür für den Ort? Wie erfolgte der dörfliche Aus-bau seit den 1950er Jahren nach Südosten (Thiefeld) und nach Norden (Wolfsberg) sowie westlich (Himmelreich) und östlich (Ortskamp) des alten Dorfkerns? War die Grund-, Schalt- und Vermittlungsstelle der Bundeswehr am Fuße des Süllberges nur Episode oder wird dieser Bereich eine Rolle bei der örtlichen Entwicklung Lüdersens spielen? Wie genau erfolgte die Aufgabe von Gewerbebetrieben, das Schließen der Schule, das so genannte „Höfesterben“, so dass Landwirtschaft nur noch eine nachgeordnete Rolle im Dorf spielt. Wie verhielt sich Lüdersen anlässlich der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform; warum gehört der Ort zu Springe? Bleibt dem Ortsrat ein genügendes Maß an politischer Gestaltungskraft? Welche Rolle spielte das erfolgreiche Mitwirken im Vorhaben „Unser Dorf soll schöner werden“ mit den Planungen aus dem Jahr 2001? Haben die Vereine, voran wohl heute die 1978 gegründe-te, weit über Lüdersen bekannte Bergbühne, die Sportgemeinschaft von 1973 oder die Frei-willige Feuerwehr genügende Integrationskraft für den Ort? Reichen ein Kindergarten, eine Gaststätte und die mit Bennigsen vereinte Kirchengemeinde aus, um dörfliches Leben zu ge-stalten? Muss Bürgersinn ersetzen, was kommunale Politik und Verwaltung nicht mehr leis-ten? Heißt neue Bürgergesellschaft, dass die Menschen vor Ort selbstbewusst das Heft in die Hand nehmen, sich beispielsweise gegen ein Zuviel an Windrädern wehren oder gar örtliche Brachflächen aufkaufen um Teile des Dorfes als eigenen Wirtschaftsbetrieb fortzuführen?

Lüdersen liegt fern von Springe, aber mitten im Calenberger Land und im Herzen der westlichen Region Hannover. Seine Lage als „Bergdorf“ ist einzigartig im Calenberger Land. Es verfügt mit seinen knapp 1000 Einwohnern über Tradition und Gemeinschaft, an die es sich anzuknüpfen lohnt, um kreativ die Zukunft zu gestalten: sich aktiv für den Heimatort einzu-setzen, setzt voraus, dass seine Geschichte bekannt ist.

Nachweise

Der Text beruht im Wesentlichen auf:

Carl-Hans Hauptmeyer, Zur Geschichte Lüdersens. In: Springer Jahrbuch 2009, S. 26-37.

Siehe darüber hinaus:

Schultz, Gernot u.a.: Lüdersen. Ein Dorf im Calenberger Land einst und jetzt. Springe 2005

Hauptmeyer, Carl-Hans u.a.: Annäherungen an das Dorf. Hannover 1983, S. 47-49, 148-157, 160-162

Hauptmeyer, Carl-Hans: Calenberg. Geschichte und Gesellschaft einer niedersächsischen Landschaft. Hannover 1983, S. 8 f., 26 f., 69-75, 92-94

Hauptmeyer, Carl-Hans: Agrarkrise, Wüstung, Mehrfelderwirtschaft, Meierrecht und Verdorfung im Calenberger Land. Überlegungen zum agrarischen Wandel des späten Mittelalters. In: Beiträge zur niedersächsischen Landesgeschichte zum 65. Geburtstag von Hans Patze, Hildesheim 1984, S. 51-75

Hauptmeyer, Carl-Hans: Niedersächsische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im hohen und späten Mittelalter 1000-1500. In: Geschichte Niedersachsens 2,1, Hannover 1997, S. 1039-1378

Hauptmeyer, Carl-Hans: Geschichte Niedersachsens. München 2009

Vergleiche auch:

http://de.wikipedia.org/wiki/Lüdersen